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Industrie 4.0 darf nicht am Fabriktor enden

Viele Menschen verbinden mit dem Begriff Industrie 4.0 zunächst die Digitalisierung und Vernetzung von Maschinen und Produktionsanlagen zu intelligenten Fabriken - die Smart Factory. Unserer Ansicht nach ist diese Vorstellung zu eng gefasst, wenn wir die “vierte industrielle Revolution” wirklich ernst nehmen wollen. Eine ganzheitliche Betrachtung der industriellen Wertschöpfungskette ist notwendig, welche nicht nur die Produktion von Gütern umfasst, sondern auch deren dauerhafte Betreuung, Wartung und Reparatur.

Industrie im Wandel

Die zunehmende Digitalisierung verändert nicht nur die Art und Weise, wie produziert wird, sondern auch die grundlegenden Geschäftsmodelle von Unternehmen. Kunden kaufen heute vermehrt Leistungen und Services statt Produkte: Airlines kaufen keine Triebwerke mehr, sondern schließen Flight Hour Agreements ab, Fertigungsunternehmen kaufen Löcher statt Bohrer, und Automobilhersteller wandeln sich zu Mobilitätsdienstleistern, um nur einige Beispiele zu nennen.

Wartung und Reparatur, die früher in den Verantwortungsbereich des Kunden fielen, wandern nun zum Hersteller zurück. Dies bietet einerseits die Chance, neue Geschäftsmodelle zu erschließen, bringt aber andererseits auch einen veränderten Blick der Unternehmen auf den Produktlebenszyklus mit sich. Ein effizientes Handling des Produktes nach der Auslieferung wird zur Schlüsselkompetenz. Ist „Maintenance & Repair“ im klassischen Produktgeschäft häufig ein Umsatzbringer, so wird es in „Product-as-a-Service“-Geschäftsmodellen zum Kostenblock.

Aber auch die Produkte selbst unterliegen einem Wandel. Neue Konstruktionsprozesse und Fertigungsverfahren (z.B. parametrische Modelle und 3D-Druck) ermöglichen es, industrielle Produkte individuell auf den Kunden zuzuschneiden – Stichwort „Losgröße 1“. Die Produkte selbst werden smarter und vernetzt. Es steigt der Anteil an Elektrik/Elektronik-Komponenten und Software in den Produkten.

In der jüngeren Vergangenheit kamen Lieferkettenengpässe und Preisdruck als zusätzliche Treiber für kontinuierliche Produktanpassungen hinzu. Komponenten können nun nicht mehr für eine Produktgeneration ausgewählt und verbaut werden, sondern müssen je nach Verfügbarkeit eingesetzt werden.

Das wachsende Funktionsspektrum und die zunehmende Varianten- und Versionsvielfalt führen zu einer kontinuierlich steigenden Komplexität der Produkte. Menschen, die diese Produkte betreuen sollen, zum Beispiel im Bereich der Wartung und Reparatur, sehen sich mit immer größeren Herausforderungen konfrontiert. Einerseits müssen sie immer anspruchsvollere Aufgaben übernehmen, andererseits wird es schwieriger für sie, Erfahrungswissen aufzubauen, da kein Exemplar mehr dem anderen gleicht.

Leider können die Anforderungen an die Basis-Qualifikation der Mitarbeiter nicht in gleichem Maße steigen wie die Komplexität der Produkte wächst. Faktoren wie der Fachkräftemangel, die globale Verfügbarkeit der Produkte sowie die unterschiedlichen Service-Modelle führen zu einem sehr heterogenen Qualifikationsprofil bei Personen im Betrieb und der Wartung.

Das Konzept, Mitarbeiter im Vorfeld zu schulen und dann mit allem notwendigen Wissen ins Feld zu schicken, stößt ebenfalls an seine Grenzen. Selbst der qualifizierteste und erfahrenste Mitarbeiter ist nicht mehr in der Lage, alles „im Kopf“ zu haben.

Will man solche Produkte auch in Zukunft effizient und effektiv betreuen, ist eine interaktive, zielgerichtete Unterstützung des Menschen bei Wartung und Betrieb unabdingbar. Basis dafür ist jeweils die Bereitstellung von Informationen, die genau auf den jeweiligen Bedarf zugeschnitten sind.

Status Quo

Die Systemtheorie sagt: „Nur Komplexität kann Komplexität beherrschen.“ Die Produkte sind und werden immer komplexer, aber wie sieht es in der Praxis mit der Verhaltensvielfalt und Flexibilität der Produktdokumentation aus? Häufig leider nicht so gut.

Traditionell sind die Entwicklungsprozesse darauf ausgelegt, eine technische Produktspezifikation für die Fertigung zu erstellen. Auf dieser Grundlage wird dann mit hohem Aufwand in einem (ganz oder teilweise) manuellen Redaktionsprozess die Produktdokumentation erstellt.

Stand der Technik sind dabei in vielen Fällen noch Papierdokumente, oder gegebenenfalls „digitales Papier“ (PDF). Beide Varianten sind von Natur aus eher statisch und oft bereits beim Druck veraltet. Die digitale PDF-Dokumentation wird dann von Mitarbeitern auf Laptops oder anderen mobilen Geräten betrachtet – wenn sie sie nicht der Übersichtlichkeit halber wieder in Papierform ausdrucken.

Dokumentation in dieser Form ist weder aktuell noch auf das individuelle Produkt und die jeweilige Service- oder Wartungsaufgabe zugeschnitten. Ihre Erstellung ist aufwändig, fehleranfällig und kostspielig. Die Potenziale „echter“ Digitalisierung bleiben ungenutzt.

Lösungsansätze

Wir sind der Meinung, dass mit der industriellen Revolution auch eine Revolutionierung der Informationsbereitstellung einhergehen muss. Die klassische Produktdokumentation im Sinne von statischen „Dokumenten“ ist nicht mehr zeitgemäß und wird bereits den aktuellen und erst recht den zukünftigen Herausforderungen nicht mehr gerecht.

Nach unseren Erfahrungen in verschiedenen Projekten mit Kunden sind die folgenden Aspekte besonders wichtig, welche wir unter dem Begriff „Smart Documentation“ zusammenfassen:

Sie muss überall verfügbar sein, wo das Produkt eingesetzt oder gewartet wird: Produkte werden nicht immer an Orten mit perfekter Netzabdeckung eingesetzt, ggf. ist eine aktive Internetverbindung sogar überhaupt nicht möglich. Lösungen sollten möglichst geräte-unabhängig und insbesondere auf beliebigen mobilen Geräten einsatzfähig sein.

Neue Potenziale

Betrachtet man die Bereitstellung von Produktinformationen nicht als statische Dokumentation, sondern als eine Facette des Digitalen Zwillings und damit als interaktiven Prozess in einer digitalen Welt, so ergeben sich plötzlich ganz neue Anwendungsszenarien.

Der über die Informationsbereitstellung aufgebaute Kanal kann zum Beispiel gleichzeitig zur Informationsgewinnung genutzt werden. So lassen sich Feedbackschleifen für Verbesserungsprozesse einbauen, das Geschäftsmodell mit Felddaten direkt aus der Wartung optimieren, oder die Erfüllung von Dokumentationspflichten bei sicherheitskritischen Systemen vereinfachen, um nur einige Punkte zu nennen.

Verknüpft man die digitale mit der realen Welt, dann eröffnet die entstehende „Augmented Reality“ ganz neue Möglichkeiten. Beispielsweise lassen sich interaktive Wartungsanleitungen erstellen, die über dem realen Gerät eingeblendet werden und die einzelnen Arbeitsschritte des Werkers veranschaulichen, ggf. zusätzlich mit zusätzlicher Unterstützung durch einen via Internet hinzugezogenen Offsite-Experten.

Mit weitergedachter Digitalisierung kann die Einbahnstraße „Produktdokumentation“ so zum wertschöpfenden Highway werden.

Picture Credits Title: © Robert Kneschke, Adobe Stock
Johannes Becker

Johannes Becker

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